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Crystal

Video Arte Palazzo Castelmur

Dank ihrer Leichtigkeit und Unzerbrechlichkeit sind die seit den 1990er Jahren marktgängigen PET-Flaschen zum Standard für Getränkeverpackungen avanciert. In allen möglichen Formen und Farben erhältlich ist die recycle-bare Einweg-PET-Flasche ein Nutzobjekt, das in einer unvorstellbaren Zahl tagein tagaus gehandelt und verwendet wird — überall auf der Welt.
Im repräsentativen Ballsaaal des Palazzo Castelmur schuf der Südtiroler Künstler Manfred Alois Mayr, der mit seiner Fassadengestaltung des Vorarlberger Museums aus einer Vielzahl von strukturierten Böden von PET-Flaschen internationale Bekanntheit erlangte, eine Skulptur aus ebendiesen Plastikbehältern. Etliche leere, übereinander gestülpte und geklebte Softdrink-Flaschen schiessen turmartig in die Höhe und ergeben ein überraschendes, elegantes Bild einer Säule. Aus seinem gewöhnlichen Kontext herausgelöst erlangt das ungewöhnliche Baumaterial — eigentlich ein Abfallprodukt — eine Bedeutungsverschiebung. Als Künstler befreit Mayr das moderne Industrieprodukt von seinem ursprünglichen Daseinszweck und stellt es, so prominent inszeniert, in einen zwar neuen, aber ebenso wenig neutralen Diskurs: Vor dem Hintergrund der Geschichte des Palazzo Castelmur, der prunkvollen Innenausstattung und deren Auftraggeber Giovanni Castelmur, der als Kaufmann im Ausland Vermögen ergatterte, wird das Objekt in Relativität zum Ort gestellt. Der raumspezifische Bezug stellt Referenzen zu den vielfältigen, farbigen Tapeten und Trompe l?Oeuil-Malereien — täuscht uns der Künstler mit den farbigen Flaschen auf den ersten Blick etwa mundgeblasenes Muranoglas vor? - oder zum Treppenaufgang mit den Antrittssäulen und den schmuckhaften Glaskugeln her. Eine Ansammlung von Champagnerflaschen aus früheren Zeiten auf dem Dachboden des Palazzo mag die Wahrnehmung des Gebrauchsgegenstands ebenfalls färben.
In ortsspezifischen Vertiefungen schafft Manfred Alois Mayr raumgreifende und kleinere Installationen. Untersuchungsgegenstand bilden dabei alltägliche Lebensräume, die der Künstler auf die Präsenz des Menschen hin analysiert. Dabei stellen sich ihm Fragen wie die nach der Konstruktion von (kultureller) Identität oder der Existenz von Farben und spezifischer Materialien sowie deren kulturellen Bedeutungen. Skulpturale Gebrauchsgegenstände werden einem Bedeutungswandel unterzogen, der neue, häufig irritierende Referenzen schafft. Die Arbeiten des Raumanthropologen bewegen sich zwischen Architektur und Kunst, zwischen Design und Objekt.



„Castelmuro“ 2015

Reiner Zucker: in der Kunst — anders als Schokolade (allen voran durch Dieter Roth oder auch Ian Anüll) oder seit Joseph Beuys‘ «Fettecke» (1982) erst recht Butter — ein selten verwendeter Werkstoff. Dabei schreibt Zucker seit der Entdeckung der karibischen Inselwelt, die zur Errichtung von Zuckerrohrplantagen führte und die Sucrose zu einem Allgemeingut werden liess, bereits eine über 500-jährige europäische Kulturgeschichte. Anders steht es mit dekorativen Meisterwerken: Am persischen Hof wurden bereits im 11. Jahrhundert Skulpturen aus Zucker modelliert und Tiere, Wortbilder, Schiffe oder andere Bauwerke wurden im 13. Jahrhundert auch in Frankreich und um 1400 in England bei Festmählern des gehobenen Standes als Süssspeisen gereicht.
Als sogenannte Zuckerbäcker (der Begriff umfasst Konditoren, Cafétiers, Bierbrauer u.a.) versuchten sich ab dem 16. Jahrhundert aufgrund unzureichend wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten zahlreiche Bündner im Ausland. Zunächst in Venedig, wo sie bis ins 18. Jahrhundert die Vormachtstellung in der Zuckerbäckerzunft inne hatten und später, als sie ihre Privilegien dort aufgrund politischer Machtkämpfe verloren, über das gesamte Europa verteilt. Kaum gibt es eine zweite Schweizer Region, die derart von der Auswanderung geprägt ist, wie das Bündner Südtal. Während viele fern der Heimat erfolglos verarmten, - denn das Geschäft mit dem Süssen war in den meisten Fällen eher ein bitteres — kehrte Giovanni de Castelmur mit einem ansehnlichen Vermögen ins Bergell zurück. Sein Grossvater Antonio Castelmur-Stampa hatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Marseille die Pâtisserie Castelmuro eröffnet, der Baron betätigte sich im Seidenhandel. So steht der prächtige Schlossbau Castelmur ohne seinesgleichen für die Geschichte des Bündner Zuckergeschäfts.
Manfred Alois Mayr spürt dem süssen Hintergrund des Hauses nach und baut seinerseits ein Modell aus Zucker, welches sich in der permanenten Ausstellung zur Geschichte der Zuckerbäcker im zweiten Obergeschoss als unauffällige Setzung einschleust. Den Prunk des Hauses führt er auf seinen symbolischen Ursprung zurück: das nach einem kolorierten Plan geschaffene Modell, das sich aus Würfelzucker-Bausteinen zusammensetzt, zeigt das Fassadenrelief der Konditorei der Familie Castelmur an der Rue Paradis in Marseille.

Céline Gaillard










Künstlerische Leitung Luciano Fasciati
Kuratorin Céline Gaillard
Foto: Ralph Feiner und Archiv M. A. Mayr


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