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Atelierbesuch

Also zwitschert der Südtiroler Spatz in einem anderen Dialekte
Manfred A. Mayr

Der Künstler Manfred Alois Mayr hat die Entwicklungen im Südtiroler Kunstbetrieb während der letzten Jahrzehnte aus nächster Nähe verfolgt und selbst auch mitgeprägt. Sein künstlerisches Werk kennzeichnet eine langjährige Erfahrung in der Auseinandersetzung mit ortspezifischen Gegebenheiten. Dabei spielt die Beschäftigung mit dem Raum eine zentrale Rolle: weniger als abstrakte Konstruktion oder distanzierte Raumpoetik als vielmehr als eine Art praktizierte Raumanthropologie, die ihre Substanz aus der Präsenz des Menschen im Raum generiert. Repräsentative Bildungsinstitutionen wie die Europäische Akademie, die Freie Universität Bozen oder das Bibliothekenzentrum Bozen sind ebenso Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung wie ein Obstmagazin, eine Weinkellerei, ein Wohnhaus oder ein Kiosk. Die nachfolgenden Notizen und überarbeiteten Aufzeichnungen mehrerer Begegnungen mit dem Künstler und seinen aktuellen Projekten bewegen sich zwischen gelebtem Alltagsraum einerseits und forschendem Kunstraum andererseits. Sie stellen Fragen nach der Konstruktion von Identität und Diversität alltäglicher Lebensräume. In seinen skulpturalen Objekten und subtilen – bisweilen kaum sichtbaren architekturbezogenen - Interventionen bewegt sich der Künstler auf dem schmalen Grat zwischen angewandter Funktionalität und autonomem Objektstatus. Dabei interessiert ihn vor allem das Aufdecken von Zusammenhängen und die Manipulation symbolischer Form- und Farboberflächen im Sinne eines Diskurses über kulturelle Prozesse des Einschleusens, Ausdifferenzierens und Repräsentierens, über das Spannungsfeld zwischen Eigen- und Fremdheiten - von konkreten Baumaterialien bis hin zu abstrakten Ideologien.

(Abb.1a, Herrgottswinkel), Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2006, Serie STL2506/1762, Walten - Passeier)

Auf dem Tisch vor uns liegen ausgebreitet Diahüllen aus Deinem umfassenden Fotoarchiv. Reden wir also über Kunst als eine Möglichkeit, die Erscheinungsbilder der Kultur zu sortieren, über Kunst als eine Ansammlung von Regeln und Abweichungen, die zeigt, wie Identitäten aber auch Klischees konstruiert, unterwandert und verändert werden können.

Erzählungen klammern sich an Bilder. Nehmen wir dieses Foto eines „Herrgottswinkels“, jener Zimmerecke in der bäuerlichen Wohnstube wie man sie in ganz Europa in katholischen Häusern immer noch finden kann. Im konkreten Fall besteht er aus (dem hier nicht sichtbaren) Kruzifix, Fernsehapparat und Stickdecke. Der gestickte Spruch „Mein Heim ist meine Welt“ kommentiert den Hausaltar, auf dem der Fernsehapparat die Wahrheit verkörpert wie vorher der Gekreuzigte. Das mag provokant klingen, aber es ist so. Der Herrgottswinkel befand sich immer in der zentralen Blickachse und am meist geschützten Ort einer Stube: Die Ecksituation bot Schutz von zwei Seiten und war somit der Platz im Raum. Völlig unbewusst geschieht nichts anderes, als das Wichtigste an diesem geschützten Ort zu positionieren. Seit etwa einem halben Jahrhundert ist der Fernsehapparat ein fester Bestandteil des Alltagslebens. Durch ihn, durch das „fern“ Sehen wird ein Gefühl des In-der-Welt-Seins erzeugt. Ich muss jetzt spontan an ein Essen bei den Benediktinern in Marienberg denken, bei denen ich zu Gast war: Bei der Tischlesung während der Mahlzeit las ein Mitbruder eine Passage aus der Bibel. Andernorts läuft beim Essen eben der Fernseher.

Das Foto veranschaulicht ein Beziehungssystem von Dingen, verweist zugleich aber auch auf das Prozesshafte und Prekäre desselben Systems.

Dazu ein Beispiel aus der Tierwelt: Vögel, die in einem urbanisierten Umfeld leben, verändern den Charakter ihrer Nester. Trinkhalme aus Plastik oder Kunststofffäden werden ebenso gekonnt eingeflochten wie dünne Äste und Halme: Ersatzmaterialien bewirken eine Veränderung in der Bauweise . Neue Materialien bzw. neue Anwendungsbereiche beeinflussen die „Natur“ von Objekten und Architekturen. Womit wir bei der schwierigen Frage nach der so genannten Ortsbezogenheit von Materialien und Formtypen wären, allerdings nicht in dem touristischen marketingmäßigen Sinn, wo vordergründig Klischees und Markenzeichen bedient werden.

(Abb. 2a, Vogelnest, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2001, Serie V/10)

Kulturspezifisch ist nicht das Material an sich, sondern die Differenzerfahrung in der Vergegenwärtigung der jeweiligen Beziehungen, was wiederum vor allem über einen Dialog und Austausch erfahrbar wird. Das Grenzland Südtirol mit dem Aufeinandertreffen zweier Kulturen ist eine permanente Versuchsanordnung für den Prozess des Ein- und Ausschließens, des Hereinlassens und Abwehrens, des Filtrierens und Besetzens.

Vieles wird leider ideologisch instrumentalisiert. So sind etwa qualitätvolle Bauten aus der Zeit der rationalistischen Architektur der 1930er Jahre dem Verfall preisgegeben, während andere, weit weniger wertvolle oder unwichtigere Bauwerke aus derselben Zeit in den Vordergrund gespielt werden, nur um daraus ein Politikum zu machen. In einer kritischen Debatte läge die Chance, exemplarisch den Wert der Differenzen zu thematisieren, um so zu einem besseren Verständnis und kritischen Umgang mit Geschichte und ihren Manifestationen zu gelangen. Die urbanistische Entwicklung Bozens zeigt, welch gewaltige städtebauliche und Identität stiftende Auswirkungen Architektur haben kann. Die Architektur der 1930er Jahre war politisch motiviert und wurde in Form und Maßstab als Fremdkörper in die Stadtlandschaft implantiert, so dass Bozen plötzlich als die „zweigeteilte“ Stadt erschien, mit einem „italienischen Viertel“ und der historisch gewachsenen Altstadt. Abgesehen vom politischen Hintergrund ist die Irritation verständlich, die der Maßstabsprung dieser neuen architektonischen Formen in der Bevölkerung bewirkt hat. Bozen hatte im Vergleich zu den oberitalienischen Städten der Zeit einen ganz anderen städtebaulichen Maßstab. Dass das Ganze trotzdem funktioniert, ist wiederum auf die gestalterische Qualität der meisten Bauten zurückzuführen. Heute sollte es möglich sein, das Ganze aus kritischer Distanz zu betrachten und zu bewerten, im Sinne einer reflektierenden Verständigung einer autonomen europäischen Bürgerschaft, die nicht in die manipulativen ideologischen Fallen tappt, die in der politischen Landschaft gerade so erfolgreich sind, weil sie das Komplexe in einfache demagogische Formeln bannt.

Die kontroverse Diskussion rund um das Bibliothekenzentrum Bozen und die Zusammenführung der Bibliotheken der drei Sprachgruppen unter einem Dach hat gezeigt, wie problematisch immer noch das Differenzmanagement ist. Inwiefern geht das für die Bibliothek geplante Kunstprojekt auf das Thema Sprache, Sprachenvielfalt, Original und Übersetzung ein?

Das stark architekturgebundene Konzept im Zuge des Umbaus der ehemaligen Pascoli-Schule sieht eine Innenraumgestaltung vor in Form einer komplexen Komposition oder „Collage“ oder vielleicht auch „Enzyklopädie“ aus unterschiedlichsten Holzdekoren – besser gesagt Holzimitationen. Der architektonische Bestand ist der eine Aspekt, der andere seine künftige Zweckbestimmung als Bibliothek, Dienstleistungseinrichtung, Archiv der publizierten Information in ihren verschiedensten Formaten (gedruckt, digital, vertont,…). Letztendlich interessiert aber auch die Genese der gespeicherten Informationen, deren Ursprung, die Arbeit des Autors/der Autorin hinter dem Buch und die Tatsache, wie das konkrete Einzelne in der Bibliothek Teil eines abstrakten Ganzen, eines eigenen Universums wird. Darauf gilt es mit der künstlerischen Intervention zu antworten. Die Begriffe „Holz“ und „Hölzer“ bezeichnen sowohl die Bäume und Baumgesellschaften selbst wie auch das daraus gewonnene Material, bis hin zum Papier, und gleichzeitig beschwören sie einen der ältesten Werkstoffe der Kulturgeschichte. Wenn anstelle von natürlichen Holzpräparaten verschiedene Holzdekore bzw. ein pflegeleichtes und strapazierfähiges Melamin in Holzoptik und damit die (Kultur)Technik der Imitation zum Einsatz kommen, setzt ein komplexes Spiel zwischen Fiktion und Wahrheit, Erhabenheit und Trivialität, aber auch zwischen Original und Übersetzung ein. Indem die Imitation offen und radikal eingesetzt wird, ist sie glaubwürdig, die Wahrheit im Stilbruch sozusagen.

(Abb. 2ab Bibliothek Tessmann, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2008, Serie FMK3006/0211)

Statt Mythen festzuschreiben oder Identitäten zu verfestigen, interessiert sich die Kunst für die kleinen Unterschiede, die feinen Zwischentöne und subtilen Nuancen. Wäre das nicht eine Antwort auf die diversen Forderungen nach einer „Leitkultur“?

Südtirol rühmt sich inzwischen, das Land der Klimahäuser zu sein und exportiert dieses Know-how auf Messen, vor allem in den Süden. Es wäre interessant, wenn man mit dem Südtiroler-Sein generell ein Expertentum in Sachen Klima und Milieu in einem allgemeinen gesellschaftlichen Sinn verbinden würde. Hier liegt ein enormes Potential. Im Zusammenhang mit Südtirol assoziiere ich Bilder von Natur, von der Verschiedenheit der Täler: Auf engstem Raum finde ich hier unterschiedlichste Landschaften und Charaktere, die wiederum ein Tal prägen. Zwischen dem Vinschgau und Überetsch etwa liegen Welten: In jeder Hinsicht, von der Mentalität, von den Leuten, von der Atmosphäre her. Dasselbe gilt auch zwischen dem Pustertal oder dem Eisacktal und dem Unterland. Es ist faszinierend wie sich hier auf engstem Raum eine doch heterogene Welt versammelt. (würde ich weglassen,e.)Von diesem Kapital der Diversität leben wir in Europa. Und im Kleinen lebt auch Südtirol von der Vielfalt seiner Landschaft. Ich denke an den Kontrast etwa zwischen dem archaischen Obervinschgau, wo ich mich in manchen Siedlungen fast an der Waldgrenze bewege und der südlichen Atmosphäre unten in Kaltern, wo Weinreben und Zypressen die Landschaft prägen. Was allzu schnell hinter Dachmarken verschwindet, sollte stärker ins Bewusstsein dringen, als Hometraining gewissermaßen für die Wahrnehmung der kleinen (großen) Unterschiede.

(Abb 3a., Stilfs Vertikal Hochformat, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2009, Serie AOA07/0951, Stilfs) oder alternativ
(Abb 3a., Stilfs Vertikal Querformat, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2009, Serie AOA07/0947, Stilfs)

Ist es vielleicht auch eine solche differenzierende Wahrnehmung, die eine Institution wie die Kunstbiennale von Venedig mit ihrem immer wieder als überholt kritisierten Nationenprinzip in ihrer mittlerweile über hundertjährigen Geschichte vorantreibt? Ist hier die permanente Suche und Forschung nach so etwas wie nationalen Idiomen in einem internationalisierten Kunstbetrieb repräsentiert?

Venedig hat mich immer fasziniert. Interessant finde ich ja, dass sich eine Großausstellung wie die Biennale mit ihrem fast schon ins Absurde gesteigerten Nationenprinzip als Wettstreit gerade in einer Stadt angesiedelt hat, die in allen Ecken und Enden selbst geprägt ist von exotischen Einflüssen und Fernweh. Was heute ja wiederum ihre unverwechselbare Identität ausmacht.

Die Stadt Bozen wiederum scheint aufgrund ihrer Geschichte fast schon prädestiniert zu sein, um sich selbstkritisch und glaubwürdig mit Fragen der Identitätskonstruktion, des Zusammenlebens, der Migration oder dem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen.

Vor allem, weil wir ja übersetzungstrainiert sein sollten. Im Grunde geht es in dem ganzen Diskurs um das Thema des Übersetzens. Meine gesamte künstlerische Arbeit, in der die Alltagsgeschichten eine zentrale Rolle spielen, ist ein permanentes Übersetzen. Wenn eine Farbe vom Weinberg ins Büro wandert, billiger Baustahl vergoldet wird, sich ein Werkzeuggriff in eine Hochglanztürklinke wandelt, so hat das mit „Übersetzung“ zu tun.

In der konkreten künstlerischen Arbeit geht es nicht mehr um das isolierte gewichtige Objekt, sondern um den Eigensinn der Dinge, der sich aus einem Zusammenhang herauslösen oder besser herauslesen lässt. Die verschiedenen Handlaufprojekte bieten in diesem Zusammenhang „griffige“ Beispiele.

Der Handlauf ist zugleich ein skulpturaler Gebrauchsgegenstand und eine symbolische Anspielung auf das Vorübergehende im Fluss der Zeit und im Wechsel der Aggregatzustände. In der Verdichtung verbindet sich das Konstruktive und Banale mit dem Geistigen und Irrationalen. Es geht nicht nur um Sichtbarkeit, sondern auch um die körperliche Interaktion des Tastens. Etwa der für die Festung Franzensfeste aus vergoldetem Baustahl konzipierte Handlauf geht von einem konkreten Ortsbezug aus, den Geschichten rund um die in der Festung gelagerten Goldreserven und die mit Gold und Reichtum verbundenen Glücksfantasien. Das ist aber auch nur die Zündung, der Anlass. Darüber hinaus geht es in der konkreten Materialisierung und Umsetzung ganz allgemein um einen Widerspruch zur geltenden Meinung. Es geht gegen Behauptungen, gegen auferlegte Bedeutungen, gegen die so genannte „Natur der Sache“ in der Kultur. Die „Aura“ eines Materials kristallisiert sich aus der Funktion heraus. Indem ich billigen Baustahl vergolde und veredle, wird die „angestammte“ Funktion in Abrede gestellt. Ein anderes „griffiges“ Exempel wäre der Schaft eines Beils, der für eine Haustür zum Griff umfunktioniert wurde: Indem ich den Schaft glanzlackiere, ihm einen weißen Anzug verpasse, verändert sich die Wahrnehmung, öffnet sich ein Katalog anderer Ähnlichkeiten und Referenzen.

(Abb. 4a, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Goldlauf, 2009, Handlauf, Baustahl 24 Karat vergoldet, ø 3 cm, L 117 m; permanente Installation, Festung Franzensfeste)

Solche Interventionen generieren nicht nur Indizien des Eigensinns, sondern konterkarieren - vielleicht auch unterbewusst – die Strategien der Bemächtigung.

Und es sind Beispiele, in deren Zusammenhang auch noch mal interessant wäre, über die so genannte „Ortsbezogenheit“ von Materialien zu sprechen. Im Unterschied zur Politik oder Ökonomie geht es in der Kunst nicht darum, Behauptungen aufzustellen, die meistens nur Klischees produzieren, sondern darum, Fragen zu modellieren. Im Mittelpunkt steht nicht die Standardsprache, sondern der Dialekt, stehen die Dialekte, die Varietäten und Färbungen. Dialekte können plötzlich wertvoll werden: Die Kunstform, der Ausdruck einer kleinen Gruppierung kann für die Gesellschaft eines Landes plötzlich zum Kapital werden. Ich blicke jetzt bewusst über die nahe Grenze und denke an die spezielle Kunstsprache des Jugendstils. Da hat eine kleine Gruppe von Kunstschaffenden, Leute wie Josef Hoffmann, Adolf Loos, Gustav Klimt und andere ihre Formensprache an fremden Kulturen, wie etwa der japanischen geschult, das Ganze dann verwoben mit der eigenen Geschichte und daraus was Neues entwickelt. Zunächst für eine kleine Gruppe von Kunstinteressierten, das dann aber wieder – etwa in der Rezeption derselben Japaner - plötzlich zu etwas Idealtypischen einer ganzen Kulturlandschaft wird. Die Wahrheit ist, dass der Wiener Kulturtourismus heute eben von den Ergebnissen solch „kleiner“, „marginaler“ Kunstereignisse mehr zehrt als von den großen repräsentativen Institutionen. Als handle es sich um einen Apfel, der noch etwas abliegen musste, um das volle Aroma zu entfalten. Dabei bewundert der japanische Tourist im Wiener Jugendstil interessanterweise doch eigentlich nur wieder die Ausformung ureigenster kultureller Strukturelemente. Worum es eigentlich geht, ist der Austausch von kultureller Substanz, um diesen Gärprozess, in dem das Eigene im Anderen und Fremden erst erkennbar wird.

Deine Arbeit kreist im wörtlichen und übertragenen Sinn um das „Erfassen“ und „Begreifen“ von Materialien, Bildern, Formen, Topoi in kulturellen Räumen. Und sie ist eine ausdrückliche Aufforderung, sich auf die „Stoffe“ einzulassen und „Farbe zu bekennen“.

Das alles hat mit einer differenzierten Sehweise zu tun oder,wie es Ad Reinhardt ausdrückt, „Sehen ist schwieriger als es aussieht“. Ich selbst musste erst einmal das akademische Formenvokabular ablegen, um den Blick frei zu haben. Wichtig waren diesbezüglich Reisen und Aufenthalte im Ausland. Rotsehen ist in Venedig etwas anderes als in Moskau und ins Blaue hinein denkt es sich in Griechenland anders als in Tirol. Hier fiel mir dann beispielsweise einmal auf, dass der Bauer selbst beim Kirchgang am Sonntag die blaue Schürze nicht ablegt, sondern selbstbewusst unter dem Jackett hervorblitzen lässt. Das Königsblau, das göttliche Blau, die blaue Arbeitskleidung. Als den Mitarbeitern der Vinschgauer Obstproduzenten die neue Architektur zu kühl und modern erschien, lag die Lösung auf der Hand: „schurzblau“ an die Fassade - und schon stand die Tür offen. Nicht nur Landschaften oder Räume können ein „Heimatgefühl“ vermitteln, sondern auch Farben. Die Wirkung und Wahrnehmung von Farben ist ortsbezogen und kulturell bedingt. Blick, Sehweisen, Farberkennungen sind sozial geprägt. Die Frage stellt sich, wie weit man gehen kann, damit das Ganze kritisch aber noch stimmig ist. Stimmigkeit hat vor allem mit Authentizität zu tun, mit Lebendigkeit. Das sind Vorstellungen, mit denen ich auch Heimat und Haus verbinde. Ich denke dabei an den Bauer im Nadelstreif, den John Berger beschreibt: Man kann einer Person, die eine ganz andere Körperhaltung und Ausstrahlung hat, nicht einfach irgendeinen Designeranzug überwerfen. Dasselbe Prinzip gilt für Räume. Alles hat seine berechtigte „Sprache“. Auch wenn ich zunächst immer „neutral“ an eine Aufgabe herantrete: Ich versuche Räume und Orte unabhängig von ihrer Position auf der Landkarte aufzunehmen. Erst im Nachhinein tritt dann oft wie von selbst, wie in einer chemischen Reaktion, eine bestimmte Verortung an die Oberfläche.

(Abb. 5a, Smart, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2005, Serie DGN05/07, Marlinger Berg)

Du näherst Dich einem Ort über seine Erscheinung. Das wirkt wie eine phänomenologische Annäherung, die das Räumliche nicht als abstrakte geometrisch-physikalische Größe erschließt, sondern vorgängig erst einmal über den „Ort“ an sich. Ort im Heideggerschen Sinn als lebensweltlich eingerichtete Dimension, als gelebter Raum, als Raumempfinden bzw. als Atmosphäre.

Es ist auch eine Antwort auf die progressive Ästhetisierung des Alltags. Es geht um den dem Umgang mit natürlichen Ressourcen, mit der Globalisierung der Materialien. In dem Augenblick, wo mir in jedem Moment alles zur Verfügung steht, muss ich viel überlegter handeln. Ein einfacher Vergleich mit den Essgewohnheiten verdeutlicht den Gedanken: Wenn der Supermarkt saisonunabhängig ständig das gesamte Angebot bereit hält, braucht es wieder viel mehr Disziplin, und vor allem muss ich auch die Konsequenzen meiner Entscheidungen bedenken, nicht nur unmittelbar auf meine Person bezogen, sondern auch auf den weltweiten Warenverkehr, in Folge auf die Umwelt, die Wirtschaft etc.
Im Zusammenhang mit der aktuellen Lebenslogik bedeutet dies für die künstlerische Arbeit, sich nicht allein auf die Herstellung materieller Produkte und schillernder Oberflächen zu konzentrieren – das beherrschen genügend Branchen schon nahezu perfekt – sondern den Begriff der „Gestaltung“ umfassender, übergreifender, in Form von Kontextbezügen zu denken. Orte sind für mich Kraftfelder von Beziehungen, die sich durch Vergleiche und Maßstäbe herauskristallisieren. Durch Lebensspuren, durch Überlebensspuren, durch das Bewohnen, Bearbeiten, Formen aber auch „Überformen“ im Sinne von „Kolonialisieren“ von einer Form durch eine andere. Alles ohne formale Hintergedanken oder ästhetisches Bewusstsein.

(Abb. 6c, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Sparluster, 2009, Leuchtkörper „bugs (eggy pop)" in Polietilen, ø 70 cm, Fassungen vernickelt, Sparlampen

Die europäische Kunstbiennale Manifesta hat sich für ihr Gastspiel in Südtirol mit der Festung Franzensfeste und der Aluminiumfabrik Alumix Orte mit einer starken Präsenz und Atmosphäre ausgesucht.

Damit eine Veranstaltung wie die Manifesta überhaupt „manifestierbar“ ist, braucht es ein Kraftfeld, einen Kulthügel - das kann wohlgemerkt auch eine Garage sein. Alles was in einem Kunstwerk als Potential vorhanden ist, tritt in Korrespondenz mit seiner Umgebung. Im Idealfall gestaltet sich das Ganze als ein subtiler Verweisungszusammenhang: das im Kunstwerk vorhandene Potential wird in der spezifischen Umgebung augenfällig und umgekehrt tritt die Umgebung emotional und imaginativ in das Bewusstsein. Was die Soundinstallationen der Manifesta in Franzensfeste betrifft, so hatte ich den Eindruck, dass das Ganze dort besonders gut funktioniert hat, wo man sich außerhalb der Räumlichkeiten befand, so etwa der summende Kubus von Timo Kahlen auf dem Vorplatz. Vom Ort her war die Franzensfeste sicher faszinierend, allerdings war der visuelle Eindruck der Raumfolgen auch wiederum so stark, dass die kommentierenden Texte sprichwörtlich auf der Strecke geblieben sind. Vielleicht hätte man den Raumfluchten doch stärker auch visuell „widersprechen“ sollen. Der ortsspezifische Ansatz, den die Manifesta von ihrem Selbstverständnis her vertritt, ist mit jedem Ortswechsel sicher eine gewaltige Herausforderung. Über den Erfolg entscheidet, ob das Potential der jeweiligen künstlerischen Recherchen sichtbar wird oder anders ausgedrückt, ob der Samen auf den richtigen Humus fällt. Gerade der Wechsel des Milieus kann eine Reaktion auslösen. Manchmal trägt man einen Gedanken vor Ort lange mit sich herum, bis er dann unerwartet unter ganz anderen Verhältnissen zum Tragen kommt. Zum „Tragen“, ja, im wörtlichen Sinn, wenn ich etwa an die Kleiderentwürfe von Yoshi Yamamoto denke, die ihre Wurzeln in Japan haben, um sich letztendlich in Paris zu entfalten… - Das ist wie mit dem Plus- und Minuspol beim Magneten. Eigentlich dreht sich alles um das soziale Visavis, das zunehmend aus unserem Blickfeld verschwindet, um den Raum für politische und ökonomische Spekulationen zu öffnen. Wir sollten uns wieder weniger im abstrakten als im vergleichenden Denken üben. Die künstlerische Arbeit im Kontext einer vernetzten Informationsgesellschaft ist komplex: Je mehr Informationen von außen die Recherche begleiten, umso mehr Überlegungen sind anzustellen, um letztendlich ein stimmiges Ergebnis zu erzielen.

(Abb. 7a, Buchcover, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Pomarium, 1997, Objektvitrine, Vi.P Latsch, Archiv in progress, Detail)

Die aktuelle Wirtschaftslage zeigt, wie durchlässig Grenzen und Geographien heute sind.

Grenzen werden heute zumeist künstlich am Leben erhalten, oft aus ökonomischen Gründen. Womit wir beispielsweise beim Bild des Wilderers wären: beim Bergler, der es aus Überlebensgründen als sein natürliches Recht empfindet, den Abschuss des Wildtieres rund um sein Haus zu vollziehen und nicht einsehen kann oder will, dass das jetzt ein Privileg des Aristokraten oder Städters mit Jagdschein sein soll. In diesem Zusammenhang geht es neben der rechtlichen Frage auch noch um diejenige eines würdevollen Todes, um das Verhältnis von Recht und Würde. Und es geht grundsätzlich um die Verbindung zwischen Regelwerk, Handlung und Wirkung und darum, wie die Künstlichkeit des Regelwerks die Natürlichkeit zwischen Handlung und Wirkung aufhebt. Die Globalisierungsdebatte oder die aktuelle Finanzkrise zeigen wie Systeme künstlich am Leben erhalten werden und dann platzen können wie eine Luftblase. Und das Wildern gibt es auch erst seit es die Reglementierung der Jagd gibt. Im Verbot oder im Widerspruch zum Verbot liegt der Reiz.

Der Widerspruch war immer auch eine wesentliche Triebfeder des Künstlerischen. Und das Künstlerische ist eine Form von Freiheit. Bedauerlich, wenn die Absicht und Möglichkeit nicht erkannt wird und im Gegenteil versucht wird, Kunst abzuwehren, zu verbieten oder als bloße Propaganda zu instrumentalisieren.

Die Polemik um die Froschskulptur von Martin Kippenberger, durch die paradoxerweise der Sommer 2008 als Kunstsommer in die Südtiroler Annalen eingehen wird – absurderweise wahrscheinlich noch mehr als durch die Eröffnung des neuen Museums oder das Gastspiel der Europäischen Kunstbiennale Manifesta – beruht darauf, dass eine Grenze überschritten wurde. Ich meine das jetzt aber nicht in einem moralischen Sinn, sondern ganz wörtlich im Sinn von Landesgrenze. Solange das Werk außerhalb der Landesgrenzen sein Dasein gefristet hat, hat kein Hahn nach dem Frosch gekräht und tut es auch jetzt – wo er weiterhin in den verschiedensten Museen zirkuliert - nicht mehr. Kaum wanderte der Frosch ins Land herein, wurde er zum Problem. Bleibt der Frosch draußen, bleibt auch das Problem draußen.

(Abb. 8a, Grenzmarkierungen, Bildtitel: Manfred A. Mayr, Fotoarchiv, 2001, Serie LA09/14, Panzersperre aus dem 2. Weltkrieg („Drachenzähne“), Plamort - Reschen

Im Zusammenhang mit Grenzen geht es vor allem um „Sicherheitspolitik“. Grenzüberschreitungen sind riskant. Würde es sich deswegen nicht anbieten, notorische oder besser professionelle Grenzverletzer wie es die Kunstschaffenden sind, erst recht zu Partnern zu machen, gerade auch um die Schwachstellen im System aufzudecken?

Vor allem fällt mir in diesem Zusammenhang das Bild der Zugvögel ein, die zu verschiedenen Jahreszeiten an verschiedenen Orten leben und sich nicht an Territorien binden. 50 Milliarden Zugvögel sollen es ein, die jährlich zwischen Europa und Afrika unterwegs sind und auf zwei Kontinenten leben. Aus logischen Gründen. Es sind Migranten, die aus Überlebensgründen ganz selbstverständlich ein Land verlassen und an einen anderen Ort wechseln.

…während wir Nestbauer/innen mit unserem Identitätswirrwarr als „Italiener, Ex- oder Möchtegernwiederösterreicher, Nur-Südtiroler, Großtiroler, Welschtiroler…“ (Hans Karl Peterlini) rangeln? Und die Frage mit der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung ad acta legen?

In diesem Zusammenhang hat die Vogelkunde auch wieder interessante Erkenntnisse anzubieten: Ornithologen haben beobachtet, dass Vögel Handytonalitäten und Klingeltöne nachpfeifen und in ihrem Zwitschern von Klangstrukturen beeinflusst werden. So wie sie eben industrielle Materialien in ihre Nester einflechten. Also zwitschert der Südtiroler Spatz in einem anderen Dialekt als der einer anderen Weltregion – ganz unideologisch…











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Marion Piffer Damiani

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